Unser Kommentar zur Stadtverordnetenversammlung vom 25.03.2022

von | Mrz 28, 2022 | Aktuelles | 0 Kommentare

Bei der Stadtverordnetenversammlung am 25. März 2022, an der wir als Besucher teilnahmen, wurde vorhersehbar der Änderungsvorschlag beschlossen, der u.a. eine nicht näher beschriebene Verschiebung des Industriegebiets G322 und eine Verlagerung eines Teils der Fläche nach Gisselberg beinhaltet. Die Koalition aus SPD, Grünen und Klimaliste hatte sich von Anfang an auf das Maximum an Flächenbedarf festgelegt. Über die Erforderlichkeit oder gar Vertretbarkeit weiterer grossformatiger Flächenversiegelung wurde kaum noch ein Wort verloren. So konnte das Ergebnis der Abstimmung nicht überraschen. Die üppigen Flächenwünsche wurden also trotz gleichzeitiger gegenteiliger Beteuerungen in vollem Umfang bekräftigt. Da wiederum nicht bekannt gegeben wurde, wie groß G322 sein und wo genau es liegen soll, stimmten die Stadtverordneten über einen Plan ab, den sie gar nicht kannten. Vermutlich interessierte es zu diesem Zeitpunkt niemanden.

Dafür war der Ablauf der Debatte umso erstaunlicher. Praktisch jede Fraktion nahm die exakt entgegengesetzte Position ein, die man erwartet hätte.

  • So begrüssten Vertreter der CDU/FDP die Ausweisung weiterer Flächen ausdrücklich - und stimmten anschließend gegen den Änderungsvorschlag. Über die Gründe wollen wir nicht spekulieren, aber Zweifel an dem immensen Flächenverbrauch, dem hier Tür und Tor geöffnet wurde, dürften es nicht gewesen sein.
  • Vertreter von SPD und Grünen betonten die Notwendigkeit des sparsamen und vernünftigen Umgangs mit der Ressource "Land" und verteidigten gleichzeitig vehement eine fixe Wachstumsidee, die per Definition weder Ziel noch Grenzen kennt und die sie nicht in Frage gestellt sehen wollten; so etwa gegen den Vorwurf der Fraktion Die Linke, man habe schon vor langer Zeit die Erfassung von Leerstand, Freiflächen und Aufstockungsmöglichkeiten sowie die Schaffung von Anreizen zur Abgabe überdimensionierten Wohnraums gefordert, um den Flächenverbrauch zu begrenzen. Dabei ist bemerkenswert, daß in der Ausschusssitzung eine Woche zuvor ein Vertreter der Grünen offen zugab, daß die Planungsgrundlage ein "Weiter so!" sei. Diese Tatsache schrieben sie am 25. März fest.
    Fast jeder Redebeitrag enthielt dabei die Formulierung "ökologisch nachhaltige Inanspruchnahme von Flächen". Diese ist dabei nicht einmal ganz unzutreffend. Die "Inanspruchnahme" von Ackerland als Industrie- oder Verkehrsfläche ist in der Tat nachhaltig: nach menschlichem Ermessen wird an dieser Stelle kein Gras mehr wachsen.
  • Wahrhaft denkwürdig war der Beitrag der Klimaliste: nachdem ihr Vertreter das Signal des Regionalplans zu Recht als "fatal" bezeichnete und wortwörtlich feststellte, alleine die Möglichkeit eines "Weiter so", die durch den Regionalplan festgeschrieben werde, sei eine Absage an die Zukunft der Zivilisation, kam er zu dem Schluss, es gebe nun einmal einen Unterschied zwischen Utopie und Realpolitik. Das Regierungspräsidium werde es sicher nicht akzeptieren, wenn Marburg erheblich von den vorgesehenen Flächen abweiche. Er äußerte ferner, bei praktisch jedem größeren Vorhaben würden sich heute Bürgerinitiativen bilden; diese seien manchmal im Recht und manchmal nicht. Wolle man immer auf sie hören, würden bald auch keine neuen Siedlungs- und Gewerbeflächen mehr entstehen. Die Alternativlosigkeit der aus der Vergangenheit hochgerechneten Flächenforderungen scheint die Fraktion der Klimaliste absolut verinnerlicht zu haben. Folgerichtig verzichtete sie - wie schon zuvor auf der Ausschusssitzung - darauf, den Entscheidungsprozess mit eigenen Ideen oder Anträgen unnötig in die Länge zu ziehen. Auch hier könnte der Widerspruch zwischen ursprünglichem Anliegen und Praxis nicht größer sein. Ob sich die Klimaliste tatsächlich ihren politischen Inhalten annähern möchte, scheint bisher nicht festzustehen. Positiv ist hervorzuheben, daß sie in der Realpolitik jedenfalls als zuverlässiger Koalitionspartner angekommen ist.

Damit hat Marburg die Maximalflächen als Vorschlag in den Regionalplan eingebracht. Vor diesem Hintergrund wirkt die Äußerung eines Vertreters der Grünen bizarr: er appellierte an das Regierungspräsidium, es möge nun die Vorschläge der Ortsbeiräte zur Verkleinerung von Siedlungs- und Industriegebieten wohlwollend prüfen.

Jetzt kommt es also auf die Stichhaltigkeit der Einwendungen gegen den Regionalplan an - und auf die Einsicht der Regionalversammlung, daß Fassadenbegrünung und "urban gardening", also Schnittlauch in Balkonkästen, keine Ernährungsgrundlage für 82 Millionen Menschen sein können. Vor allem nicht vor dem Hintergrund eines zu erwartenden Totalverlusts der Ernte in der Ukraine und der Tatsache, daß sich Geschäfte mit dem Aggressor aus ethischen Gründen verbieten - womit die beiden größten Agrarexporteure der Welt ausfallen. Welche Folgen diese Situation haben wird, ist im Moment überhaupt noch nicht absehbar. Aber diese Problematik scheint noch zu weit entfernt zu sein, als daß man sich schon jetzt damit auseinanderzusetzen braucht. Es dürfte noch ein Jahr dauern, bis wir wieder die wohlbekannte Formel hören werden, daß "wir alle uns getäuscht haben".